
Lily Wittenburg mit Beiträgen von
Simone Gilges, Katha Schulte, Bettina Vismann
Steine: Auszüge
Kein Zufall
„Und?“
„Und wenn Sie verschwundene Ozeane suchen, müssen Sie nur eine Zeitlang im Gebirge herumlaufen und aufmerksam den Boden betrachten; im Steinernen Meer zum Beispiel, einem Karstgebiet im Berchtesgadener Land, entdeckte man versteinerte Korallenstöcke, Schalen von Muscheln, Turmschnecken, Ammoniten und Belemniten, die diesem Ort seinen Namen gegeben haben;“
„und wo der indische Subkontinent sich unter Asien schiebt, entsteht seit sechzig Millionen Jahren der Himalaya. Er wandert immer noch langsam über die Indische Platte; in übereinandergestapelten Paketen aus metamorphem Gestein; noch zehn Millionen Jahre, dann wird er sich vollständig aufgebaut haben; und weitere zwanzig Millionen Jahre, die er Erosionseinwirkungen ausgesetzt ist, dann wird er abgetragen sein; aller Voraussicht nach; der Himalaya dann: platt;“
oder auch nur eine einzige 140 Millionen Jahre alte Falte in einem fünfhundert Millionen Jahre alten Gestein;
und diese Faltung, dieser singuläre Faltungsvorgang: als Film; in seiner eigenen Zeit;
in seinem eigenen Maßstab sei dieses Geschehen von ungeheurer Tragweite, auf Augenhöhe des Menschen vielleicht eher fad;
es sei doch kein Zufall, so Romy im Gegenzug, dass Holger Meins damals durch einen Film über den Bau von Molotowcocktails bekannt wurde und nicht über die allmähliche Abtragung des Himalaya;
„ja“, sagte Ingrid;
„das ist kein Zufall; aber“
Das Kino
Um das Zentrum herum lagen an einer Hauptverkehrsstraße fünfstöckige Wohnblocks mit Ladengeschäften im unteren Geschoss, da war nur noch wenig Resthelle vorhanden im ohnehin düsteren Tag. Die Luft feucht und kalt und je weiter man in die Seitenstraßen vordrang, desto tonloser der Abend. Straßenlaternen warfen etwas Licht auf das abwechslungsarme Panorama. Männer eilten mit Taschen unterm Arm an Toreinfahrten vorüber, Frauen redeten mit halblauter Stimme zu nebenherlaufenden Kindern. Man beeilte sich, zu Hause anzukommen. Die Zeit? Es war Feierabend. Nieselregen zog durch die Kleidung bis an die Haut. Ein unbeschilderter Hinterhof, ein Geländer, ein paar Stufen hoch. Die Betonrampe überquerend gelangte man an eine zugezogene Tür. Dahinter verbarg sich der Flur, eine dunkle Vorhalle ohne erkennbare Bestimmung, an deren Ende eine Treppe die Wand entlang in die Tiefe führte. Dort war es.
Rutsche
Jeder Bremsversuch wäre jetzt einem Sturz gleichgekommen, sie liefen in vollkommen geradliniger Abfahrt vom Hang tiefe Furchen ins Geröll, die sich nach jedem Schritt wieder mit nachlaufenden Steinen füllten, und traten unter ihrer Spur vorauseilende Schuttrinnen vor sich her: Ingrid sah jetzt, worauf die von ihr in Bewegung getretene Spur sich zubewegte: Die Trasse, die sie am unteren Rand gesehen hatte, war, durch eine Scharte von dem Hang, den sie hinabkamen, getrennt, gleichsam zur Seite getreten und gab einen Abgrund frei. Wie eine riesige Kinderrutsche voll loser Steine lief der Hang darauf zu.
Wie ein Ding
Romy legte die Handfläche auf den Stein. Seit sie den Trainingsraum verlassen hatte, hatte sie daran gedacht, ihn zu berühren. Seine Gestalt regte sich unter ihrer Hand. Wie das Phantom von etwas, das noch nicht in der Gegenwart angekommen war, hatte er unterwegs schon in ihrer Handfläche gekribbelt. Wie ein Ding, das raus will. Wie etwas, das im Begriff war, eine Oberfläche zu durchbrechen. Wie etwas, das etwas nicht für sich behalten wollte.
Wie in einem Film
Nein, es war keine feste Materie, das war kein Hintergrund, vor dem man etwas tat und in Bewegung setzte, das war die Bewegung selbst. Dort verging die Zeit. Im Stein, da verging Zeit. Das war die Zeit selbst und man konnte es sehen.
Dass es wieder und wieder vor ihr ablief wie in einem Film, worauf lief das hinaus?
Sie hatte aber auch nicht in der Rückschau festsitzen wollen. Sie wollte wieder in Fluss kommen, nicht immer da nur so sitzen und man betrachtete sie, und wenn sie dann den Kopf hob, sah man weg.
…