
„Oder ich saß, auf das Meer hinblickend, starr auf dem Felsen, /
Und wie Gestein mein Sitz, war ich auch selber Gestein.
(Ovid, Briefe der Heroiden, Ariadne an Theseus, 49 f.)
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Gestern hat sie „Aby“ zu ihm gesagt. Aby, als er in den Lesesaal kam und um die beiden langen Tische herum an ihren kam. Sie hat kurz aufgeschaut, hat ihn sich angesehen, wie er heute aussah, wie es ihm wohl heute ging, ob er die Nacht geschlafen hatte, und hat „Aby“ gesagt.
Statt Professor, statt guten Morgen. Vor allen übrigens, die da waren, es waren aber nicht viele, der R und der V, und zum Garten hinaus am Fenster hinten das Fräulein S, alle über ihre Bücher gebeugt, und sie hat es leise gesagt. Wer wollte, konnte es hören, und die S hat dem Professor beim Vorbeigehen zugesehen und ihn aufmerksam dabei beobachtet, aber so, wie man beim Lesen manchmal zwischendurch den Kopf hebt und kurz aus dem Fenster schaut und ganz genau mitansieht, wie dort gerade ein Vogel vorbeifliegt. Man hat vielleicht sogar zur Kenntnis genommen, dass sie „Aby“ gesagt hat – so wie man dem Summen einer Fliege durch den Raum folgt, um kurze Zeit später zu den eigenen Gedanken zurückzukehren, die darauf gewartet haben. Man kommt nicht hierher, um jemandem Geschichten anzuhängen, und sie hat es also nur für ihn persönlich gesagt. Und für sich selbst natürlich.
Gelacht hat der Professor da, sie auch.
Gleichzeitig in einem Gefängnis in Pavia. Der Gelehrte Patricius Severinus Boethius erhält Besuch von der Philosophie. Die Philosophie ist eine Frau. Sie trägt einen Schleier. Auch die Dichter früherer Zeiten stellen wir uns mit bedecktem Haupt vor. Dante, Boccaccio. Petrarca mit nichts bekleidet als seinem Lorbeerkranz. Boccaccio hat eine flache Nase und lacht gern. Er liebt es, sich mit Menschen zu unterhalten. Über Boethius’ Körper ist nichts bekannt.
Boethius’ Körper ist der Kerker der Seele. Bing hat das Bedürfnis, einen Körper zu sehen. Wenn sie hochschaut: nichts als Buchrücken, und deswegen ist sie ja auch hier. Sie lehnt sich im Lesesessel ein Stück zurück und betrachtet ihre eigenen Beine, wie sie aus dem Rock hervorschauen, dort unten unterm Tisch knieabwärts. Die Beine, dünne grade Beine, sie muss lachen, sie lacht leise, sie ist schließlich in einer Bibliothek. Die Beine, in beigegrauen Strümpfen, und wenn man unter der Strickware nachsehen würde, beigegraue Haut.
Aber, ja, ein Körper. Sie nickt sich zu, nickt ihren Beinen zu und beugt den Oberkörper wieder nach vorn, in Leseposition.
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