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ICH WAR BIBLIOTHEKARIN geworden, aber nicht im Second Life, sondern in echt. Mit den Flächen der Fingerkuppen fasste ich auf und unter die Außenseiten des Folianten, bevor ich ihn aufklappen ließ, denn ich trug die Nägel so lang und aufwendig zurechtgemacht, dass ich nur mit den flachen Enden meiner Finger die Einbände fassen und halten konnte. Einmal in der Woche ließ ich meine Fingernägel in Form bringen, damit zeigte ich meine Wertschätzung gegenüber den Büchern und gegenüber mir selbst. Ich hatte mir Leopardenaugen auf die Nägel malen lassen; die Augen, nicht das Muster des Fells, obwohl das Leopardenmuster auch, das merke ich jetzt, eigentlich aussieht wie Augen, die schönen, wachen Augen von Raubkatzen mit dem dunklen Lidstrich unten, fünf an jeder Hand.
Sind die Augen geöffnet, ist die Katze wach. Langsam öffnete ich das Buch und ließ die Seiten, während sie sich vor mir aufblätterten, durch meine Hände fließen, provozierend langsam verging die Zeit der Buchseiten, die Zeit im Inneren der Bibliothek, und verging dabei auch die allgemeine Zeit, die Zeit all jener, die sich vor meinem Platz am Tresen aufgestellt hatten, um mir ihre Medien zu reichen, damit wiederum ich sie über das elektronische Registrierfeld ziehen und zur Ausleihe fertig machen konnte. Meine Arbeit war gefährlich, ich hatte mir einen riskanten Beruf gesucht, und in der Arbeit mit Büchern hatte ich genau dasjenige gefunden, bei dem sich meine Liebe zu den Dingen mit meiner Vorliebe für die riskanten Seiten des Lebens verband. Meine Arbeit war gefährlich, denn meine Kunden waren bewaffnet, betrunken oder erschienen mit einer bedenklich herabgesetzten Frustrationstoleranz an meinem Arbeitsplatz, jenseits dessen sie sich einen Aufenthaltsort für die langen Stunden nicht enden wollender Tage eingerichtet hatten. Sie waren unruhig, sie waren gereizt. Ich hob das Buch und zeigte ihnen meine Fingernägel; um sie zu beruhigen und sie zu warnen. Ich war nicht ihre Feindin; ich war hier; ich war hier für sie, aber nur bis zu dem Punkt, an dem es für uns alle gut war.
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